Was orgelt denn da?

Es ist gerade mal vier Jahre her, da hatte mich meine
amerikanische Freundin auf Türschließer und somit auf Schnuckelchen
gebracht.

Jetzt ist mir sowas ganz Ähnliches mit meiner norddeutschen Freundin
passiert:

Sie hatte sich in eine hübsche kleine Kirchenorgel verguckt, setzte
alle Hebel in Bewegung, dass sie nach gut 30 Jahren wieder auf ihr
spielen konnte, und erzähle dementsprechend oft und gern von ihr.

Ich hörte gern zu, sah mir die Bilder ihrer Angebeteten an, und dann
sprudelten auch schon die Erinnerungen...

Da wurde was zutage gefördert, woran ich selber gute 40 Jahre nicht
mehr gedacht hatte!
Ein uralter Schatz wurde aus den Tiefen meiner Seele gehoben.
Irgendwie ist es schön, dass mir solche Dinge jetzt wieder einfallen,
ich habe das Gefühl, dass da wieder ein paar Puzzleteile an die
richtige Stelle fallen.

Vor so langer Zeit hatte ich nämlich selber mal was mit einer
Kirchenorgel laufen!
Klar, als Kind von sechs, sieben Jahren wusste ich natürlich über
Objektophilie in keiner Weise Bescheid, aber im Nachhinein ist mir
klar, dass es damals sehr wohl schon Liebe war.
Die silbernen Pfeifen der Orgel faszinierten mich, und es gab auch die
üblichen, kindlich-unschuldigen Schmusekuschelnahseigedanken.
Damals nahm ich die Pfeifen als "silbern" war; ich machte mir keine
Gedanken über das reale, bleihaltige und somit giftige Material, das
mich heute - selbst in Gedanken - Abstand nehmen lässt.

Damals waren Eltern noch nicht so ägstlich wie heute, und Kinder waren
um Einiges unternehmungslustiger, daher war es kein Problem, die Orgel
gelegentlich zu besuchen.
Zuhause malte ich Bilder, die mein ältester Bruder so kommentierte:
"Eine Flasche!"
"Ein ganzes Regal voller Flaschen!"
Ich musste ihn korrigieren, er hatte die Bilder verkehrt herum gehalten;
hatte ich doch eine einzelen Orgelpfeife und dann die ganze Orgel mit
ihren vielen Pfeifen gemalt...

Nach Wegzug aus der Gegend vergaß ich diese Orgel. Es verlagerte sich
in den Bereich des "normalen Schönfindens", Orgeln und ihre Musik
mochte ich nach wie vor, aber nicht mehr auf einer objektophilen Basis.

Das hat sich nun wieder grundlegend geändert.
Ich sah mir Videos und Bilder an, hörte und schaute hin.
Die Pfeifen finde ich zwar nach wie vor schön, wegen ihrer Giftigkeit
kommen da aber heute keine objektophilen Gefühle mehr auf.

Dafür nahm mich jetzt ein anderes Detail gefangen, die Registerzüge.
Da gibt es jede Menge Variationen, und mir gefallen jene, die eine
Stange mit quadratischem Querschnitt hinter dem fein gedrechselten
Handgriff haben. Die passen so herrlich in mein Beuteschema...
Metall ist da zwar keines beteiligt, aber wozu hat der Mensch die
Fähigkeit zu träumen.......


Solche Träumereien förderten nun wieder einen anderen, längst vergessenen
Schatz aus vergangenen Zeiten zutage; einen etwa 20 Jahre alten Tagtraum,
den ich mir "zusammenreimte", als ich von den Karfreitegs-Kreuzigungen
auf den Philippinen erfahren hatte.
Dort lassen sich immer ein paar Leute für fünf Minuten kreuzigen, und zwar
mit echten Nägeln. Mache machen jedes Jahr wieder mit und werden jedesmal
frisch genagelt. Das heißt, sie lassen die Löcher in den Händen jedesmal
zuwachsen und das nächste Mal werden sie aufs Neue hineingerissen...

Ich tagträumte drauf los, dass es doch sinnvoll wäre, dauerhafte, gut
abgeheilte Lächer hineinzumachen. Am Karfreiteg könnte man schmerzlos Nägel
hindurchstecken, und das Jahr über Schmuckstücke, ähnlich wie Ohrstecker
tragen.
Weil mir Kreuznägel mit quadratischem Querschnitt in Erinnerung waren,
hatten meine zusammengeträumten Schmuckstücke ebenfalls eine quadratische
Stange, die durch die Hand führte.

Ein Tagtraum wie dieser stellt einen ganz wesentlichen Aspekt meinerselbst
dar, einen der wichtigesten Teile meinerselbst, die mich "Ich!" sagen lassen.
Wenn man Ottonormal gegenüber was vom Durchstechen erwähnt, so reagiert dieser
normalerweise mit einem "Aua, das tut doch weh!" und kann sich nicht im
Entferntesten vorstellen, dass das was mit einem unglaublich angenehmen
Gefühl zu tun haben könnte.
Wenn ich jedoch was vom Durchstechen sage, dann bin ich gedanklich schon
wieder viel weiter voraus, denke an fertig abgeheilte Löcher in denen sich
das Metall einfach nur genial anfühlt und an ein völlig schmerzfreies Wohlgefühl.

Im Hier und jetzt konnte ich es mir nur im Kleinen realisieren, als gewöhnliche
Piercings.
Für mich ist das ein absolut faszinierender Vorgang, wie das Metall erst im
direkten Kontakt zum Blut ist, und sich dann nach und nach eine ganz neue Haut
bildet, die immer weniger schmerhaft wird und schließlich hochsensibel
ist und das herrliche Metallgefühl herein lässt.
Eine neue Haut, die nie was Anderes gekannt hat, eine dauerhafte Vereinigung
von Mensch und Metall...
Da ist für Schmerz nicht viel Platz, und näher kann einem ein geliebtes Objekt
gar nicht sein. In dem Maße, in dem der Schmerz abnimmt, macht sich zunehmend
ein wonniges Gefühl breit.

Leider konnte ich das meiner lieben Mama nie begreiflich machen. Sie meinte,
ich sähe doch mit Ohrclips "genauso nett aus". Dass Aussehen für mich absolut
zweitrangig ist, dass die langen Hänger mit Mode und Schönheit so gut wie nichts,
aber mit Gefühl sehr viel zu tun haben, hat sie nie erfahren.

Auch andere verstanden mich dahingehend nicht, sie begriffen nicht, dass ich gar
nichts Böses im Sinn hatte, und steckten mich kurzerhand in die falsche Schublade.
Aus der fand ich nicht mehr hinaus, redete nicht mehr und verbunkerte
meine Gefühlslage über Jahrzehnte hinweg in mir.


Damals, vor 20 Jahren, verwarf ich die Idee vom Handschmuck, weil die Leute
mit ihren Kreuzigungen als Sühne oder Opfer genau das Gegenteil von mir wollen:
Schmerz und Leid!


Jetzt waren es die Registerzüge, die diesen alten Traum wieder an die Oberfläche
holten. Sie mischten sich kurzerhand mit dem Handschmuck, der dadurch ein neues
Design erhielt: Er verwandelte sich sozusagen in einen stark verkleinerten,
"janusköpfigen" metallenen Registerzug. Die  Stange hat sauber verrundete Kanten,
die auf der Haut nicht wehtun und ist etwa zwei Handdicken lang, damit man schön
"ziehen" und "abstoßen" kann; und die Enden zieren zwei sauber gearbeitete
Knäufe.

Mich stach der Hafer, herauszufinden, was ein Normalo von einem solchen
Schmuckstück denkt, und fertigte eine Skizze.
Die zeigte ich einem Kollegen, einem sehr aufgeschlossenen Menschen, und
sprach ihn an:

"Weil der frühe Morgen so schön ist: Was würden Sie von einem Menschen denken,
der solch ein "Mega-Piercing" spazierenträgt?"
Seine erste Reaktion: WOW!!!
Dann weiter: "Durch die Hand durch? Das braucht Mut, Respekt!"
Er wollte dann wissen, ob ich es im Netz gefunden hätte, und ich erklärte ihm
ganz kurz, dass es auf meinem Mist gewachsen war.
Er meinte, ein Bisschen verrückt wäre es wohl, aber bei ihm überwog bei
Weiten der Respekt.
In der Hartrock-Szene wäre solch ein Ding aus Stahl wohl noch stimmig, aber
da man mich so schon nicht einordnen kann, würde solch ein Schmuck aus Messing
bei mir die Leute ganz gehörig verwirren. Dann meine er aber, wenn ich
es wollte, machen! Allerdings müsste da ein Weltklasse-Piercer ran. Ich meinte,
mein Urlaub würde nie und nimmer zum Abheilen reichen, aber wieso nicht eines
Tages den Übergang in den Ruhestand damit versüßen?
Aber so, wie ich mich kenne, wird es ein - wenn auch sehr schöner - Gedanke
bleiben, ein hübscher Tagtraum, ein geistig-seelischer "Pausensnack".

Was Orgeln anbelangt, so habe ich jetzt den doppelten Genuss: einmal auf
normale Art die Musik und die äußere Schönheit der "Königin der Instrumente",
und dann auf meine Art süße "Hinguckerle" und schöne Gedanken.