So eine schöne Stadt...

...aber wie sehr habe ich sie mal gehasst!

Es war in den mittleren bis späten Siebzigern, da mussten mein einer
Bruder und ich eine Zahnspange haben.

Dazu mussten wir in eben jene Stadt.
Jede Mal war es eine entnervende, nicht enden wollende (Tor-)tur.
Stundenlang ins Auto gepfercht, mit einem ständig nerven den Bruder...
Das war damals die Hölle für mich.
Aber heute verstehe ich meinen Bruder, wo hätte er denn mit seinem
Frust bleiben sollen? Er konnte ihn ja nur bei mir abladen.

Für die Zahnspange selber hatte ich nichts übrig, sie passte keineswegs
in mein Beuteschema, obwohl sie Stahldrähte hatte. Sie störte
einfach nur bei Allem.
Dafür träumte ich immer wieder davon, dass einem so ein Doktor ruhig
mal was Schönes verordnen könnte, aber nein...

Dennoch schenkte mir jene Stadt damals eine Liebe, denn bei diesem
Kieferorthopäden gab es eine Röntgenmaschine,  bei der der Patient
mit hölzernen Ohrstöpseln fixiert wurde. Schade, dass dies immer nur
für ein paar Minuten sein konnte...

Diese Ohrstöpsel passten haargenau in mein Beuteschema und
beschäftigten mich einige Zeit. Natürlich gab es immer wieder Krach
mit meinem einen Bruder, wenn ich was damit gemalt habe, er verstand
mich numal absolut nicht, sondern fand mich einfach nur bescheuert.
Ich hatte diese Ohrstöpsel nämlich in einen neuen Kontext gesetzt,
aus einer Fixiereinrichtung hatte ich eine Art "Schmuckstück" gemacht.
Schmuck, diese nette und "legale" Art, Metall und Mensch zusammenzubringen...
Aus Holz war in meiner Vorstellung natürlich Metall geworden, und die
Leute in meiner Fantasiewelt trugen solche  Ohrstöpsel wie Schmuck,
ohne an ein Röntgengerät gefesselt zu sein.
Diese Ohrstöpsel weisen nun wieder eine Parallele zu Schnuckelchen
auf, womit sich ein Kreis schließt.


Als ich anfing, in Museen zu gehen, entdeckte ich das Schloss in jener
Stadt für mich neu. Ich kannte es ja von Vor-Zahnspangen-Zeiten. Vieles
erkannte ich sofort wieder, aber alles war schöner, weil mir alles in
der heutigen Zeit schöner erscheint.

Alles, was in den Siebzigern genervt hatte, war verschwunden. Ich war
frei, mein Leben auf meine Art zu leben.

Dann kam meine amerikanische Freundin, und fragte mich nach deutschen
Türschließern. Ich nahm mir so manche Stadt vor, um Türschließer zu
fotografieren, und irgenwann kam ich auf die Idee, mir auch mal meine
alte "Hassstadt" vorzunehmen.
So schaute ich genauer hin und entdeckte so mache Schönheit, auch
neben den Türschließern, an denen wahrlich kein Mangel herrschte.

Dann war da noch die Sache mit dem Tee.
Es gab eine Teesorte, die man nur in ausgesuchten Lokalen, aber nicht
im normalen Handel bekam. Dennoch suchte ich mir einen ab danach, und
landete irgendwann  in meiner alten Hassstadt. Ich graste alle Läden
ab, ohne fündig zu werden.
Ein Laden jedoch sollte mir später wieder in Erinnerung kommen, als
ich für meine amerikanische Freundin nach Türschließern suchte....

Ich besuchte also jene Stadt für die eine oder andere "Fotosafari",
und so heimlich, still und leise war es dann geschehen...

Von diser ehemals so sehr gehassten Stadt konnte ich nicht genug
bekommen...

Trotzdem lief es anfangs noch etwas verhalten, nur etwa alle zwei
Monate gönnte ich mir eine Fahrt dort hin. Das ging vielleicht zwei,
drei Jahre so-
Dann wurde ich etwas tollkühner und fuhr öfters hin.


Mittlerweile habe ich zwei Sommerurlaube damit zugebracht, diese
Schönheit näher kennenzulernen, habe ihre Museen abgegrast, und bin
stundenlang in ihr spazieren gegangen.

Sie hat bewirkt, dass ich heute jene Objektophilen, die eine Stadt, eine
Organisation oder etwas Anderes, nicht mit der Haut zu fühlendes lieben,
besser zu verstehen.

Sicher, ich liebe diese Stadt bis heute nicht auf einer objektophilen
Basis, aber mein Verständnis für solche Lieben ist ganz gewaltig gewachsen.


Aber wie es das Schicksal so will, hat mir diese Stadt heute wieder eine
Liebe gegeben.
Eine Freundin von mir hatte es bitter nötig, und so betrat ich eine Kirche,
um für sie zu beten und eine Kerze anzuzünden. In dieser Kirche stand eine
wunderschöne Orgel. Ich schaute sie mir genauer an, und siehe da - sie
passte genau in mein Beuteschema, hatte die Art von Registerzügen, die
mir so sehr gefallen: fein gedrechselte Handgriffe mit quadratischen
Zugstangen.
Wieder hatte sich ein Kreis geschlossen, wie damals bei den Ohrstöpsteln
und Türschließern.

Man darf gespannt sein, was ich mit dieser wunderschönen Stadt noch alles
erleben darf!